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Meinung

28 Jul 2022

Autor:
Anina Dalbert, Juristin Wirtschaft und Menschenrechte, Public Eye,
Autor:
Christian Schliemann-Radbruch, Co-Director Business and Human Rights, ECCHR

Wiedergutmachung für unternehmerisches Handeln in der Schweiz – zwei Schritte zurück, ein Schritt vorwärts

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Staaten müssen Menschenrechte gewährleisten und sicherstellen, dass Wirtschaftsakteure diese Rechte achten. Bei Menschenrechtsverletzungen haben Geschädigte ein Recht auf Wiedergutmachung, vor Gericht oder über außergerichtliche Verfahren. So steht es in den UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Was in der Theorie einfach klingt, ist in der Praxis komplex: Betroffene aus Indien haben durch Einreichung einer OECD Beschwerde sowie einer Zivilklage auf Schadensersatz wegen Pestizidvergiftungen beide Wege eingeschlagen. Welchen Hürden sie dabei begegnen und was es braucht um sie zu überwinden, wird im Folgenden deutlich.

Vergiftungswelle in Maharashtra, Indien

Im Herbst 2017 kam es in Yavatmal im indischen Bundesstaat Maharashtra zu einer Vergiftungswelle, nachdem auf Baumwollfeldern Pestizide ausgebracht worden waren. Gemäß offiziellen Quellen wurden 886 Personen zweitweise hospitalisiert und mehrere Personen verstarben. Unter den Vergiftungsopfern waren laut Polizeiberichten 96 Bauern, die angaben, sie hätten «Polo» benutzt, ein Insektizid des Schweizer Pestizidherstellers Syngenta. Der darin enthaltene Wirkstoff Diafenthiuron ist in der EU seit 2002 nicht mehr zugelassen. In der Schweiz wurde Polo 2009 vom Markt genommen. Dennoch wurden 2017 insgesamt 75 Tonnen Polo nach Indien exportiert.

Die Bauern berichteten, dass sie nach dem Sprühen von Polo unter akuten Vergiftungssymptomen litten wie temporären Sehverlust oder über Tage andauernde Bewusstlosigkeit. Andere Symptome reichten von Übelkeit über Atemnot bis zu neurologischen und muskulären Beschwerden. Die Ehefrauen mussten den Alltag der Familie bewältigen und eine bezahlte Arbeit finden, um die Einkommensverluste ihrer Ehemänner auszugleichen.

Die OECD Beschwerde I

Im September 2020 entschlossen sich 51 Familien von Vergiftungsopfern, die sich mit anderen Betroffenen in der Maharashtra Association of Pesticide Poisoned Persons (Mappp) zusammengeschlossen hatten, beim schweizerischen Nationalen Kontaktpunkt (NKP) für die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen eine Beschwerde gegen Syngenta einzureichen. Unterstützt wurden die Familien vom Pesticide Action Network (Pan India), dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und Public Eye.

In dem von der NKP geleiteten Mediationsverfahren forderten die Familien, dass Syngenta keine gefährlichen Pestizide mehr an Kleinbauern in Indien verkauft, wenn ihre Anwendung eine Schutzausrüstung voraussetzt, die ungeeignet für die klimatischen Bedingungen bzw. nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen zugänglich ist. Auch solche Pestizide für die – wie beim Insektizid Polo – im Vergiftungsfall kein Gegenmittel zur Verfügung steht, sollten nicht weiter vermarktet werden. Zudem sollte der Konzern die 51 Opferfamilien finanziell entschädigen.

Die Zivilklage I

Parallel zur OECD Beschwerde und unabhängig von den 51 Bauernfamilien hatten zwei Hinterbliebene sowie ein Überlebender einer schweren Vergiftung, eine auf Produkthaftungsrecht basierende Schadenersatzklage vor dem Zivilgericht in Basel eingereicht. Vertreten wurden sie durch die Fachkanzlei schadenanwaelte. Die Kläger*innen verfolgen hiermit ihren eigenen Weg zu Wiedergutmachung.

Die OECD Beschwerde II

Im Juni 2022 wurde das NKP-Verfahren ergebnislos beendet. Syngenta argumentierte, dass es aufgrund des Gerichtsverfahrens vor dem Schweizer Zivilgericht – das noch Jahre dauern könnte – nicht darüber sprechen könne, ob Polo die in der Beschwerde behaupteten Vergiftungen verursacht hatte. Die Schweizer NKP schloss sich dieser Position an und erlaubte Syngenta, sich hinter einem laufenden Gerichtsverfahren zu verstecken. Über die Frage nach Wiedergutmachung konnte daher im Rahmen des Mediationsprozesses keine Einigung erzielt werden.

Ebenfalls ergebnislos endeten die Forderungen nach wirksamen Maßnahmen zur Vorbeugung weiterer Vergiftungsfälle. Der NKP empfahl lediglich, dass die Mediationsparteien ihren Dialog fortsetzen, Syngenta ihren internen Beschwerdemechanismus verbessert und die Beschwerdeführer*innen bestehende Trainingsprogramme der Firma im Rahmen ihrer Expertise kommentieren.

Die Zivilklage II

Unterdessen entschied das Zivilgericht im Juni 2022, den drei Kläger*innen unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Sie sind nun in der Lage die Klagen fortzuführen. Alle drei Klagen werden separat behandelt, da sich im späteren Verlauf unterschiedliche beweistechnische Fragen stellen könnten.

Zahlreiche Hürden verhindern Wiedergutmachung

Der Fall zeigt, wie schwierig es für Betroffene von grenzüberschreitenden Menschenrechtsverletzungen ist, zu ihrem Recht auf Wiedergutmachung zu kommen. Wer nicht lückenlos den Vergiftungshergang und Gesundheitsschäden nachweisen kann, hat in einem Gerichtsprozess schlechte Karten. Auch vor diesem Hintergrund hatten sich die 51 Bauernfamilien für eine OECD Beschwerde statt einer Klage entschieden, denn Schadensfälle und deren Langzeitfolgen konnten nur unzureichend dokumentiert werden. Rechnungen für Medikamente oder medizinische Behandlungen sind meist nicht vorhanden, oder Betroffene hatten keine Möglichkeit schriftliche Unterlagen lange aufzubewahren, oder sie sind Analphabet*innen und verstehen nicht, welche Unterlagen wichtig sind.

Gerade hierfür soll das NKP-Mediationsverfahren niederschwellige Wiedergutmachungsmöglichkeiten eröffnen. Diese Aufgabe hat das Verfahren nicht erfüllt. Der UN-Sonderberichterstatter für Giftstoffe und Menschenrechte, Marcos Orellana, sagte: „Die Gruppe der 51 Landwirte und ihre Familien sollten nicht ihres Rechts beraubt werden, in einem außergerichtlichen Verfahren Wiedergutmachung zu beanspruchen, nur weil eine andere Gruppe von Betroffenen eine Zivilklage eingereicht hat. Das beendete Verfahren unterstreicht die Schwächen der nationalen Kontaktstellen für die OECD-Richtlinien und schafft einen negativen Präzedenzfall.“

Die Schweizer NKP hat mittlerweile bei der OECD angeregt die Frage nach der Behandlung paralleler Gerichtsverfahren noch einmal zu klären. Syngenta erweitert derzeit seine Trainingsaktivitäten vor Ort. Sie allein sind aber nicht ausreichend um Vergiftungen effektiv vorzubeugen. Stattdessen wären die Abkehr von hochgefährlichen Pestiziden, Zugangsbeschränkungen für vulnerable Bevölkerungsgruppen oder kostenloser Zugang zu effektiver Schutzkleidung von Nöten. Eine Antwort auf diese Fragen fehlt in der Abschlusserklärung des NKP.

Auch strukturelle Hürden erschweren den Zugang zum Gerichtssystem: Es fehlt vielfach eine klare Rechtsgrundlage für die Behandlung von Fällen im Sitzstaat multinationaler Unternehmen. Auch der Zeithorizont hindert viele Betroffene daran ein Gerichtsverfahren gegen einen Konzern anzustrengen. Selbst wenn ein Verfahren eröffnet wird und Betroffene unentgeltliche Rechtshilfe bekommen, gibt es zusätzliche Probleme wie Sprachbarrieren, hohe Reisekosten oder die Beschaffung fehlender Reisepässe. Auch Aussagen von Hauptzeug*innen sind herausfordernd, wenn diese aufgrund von z.B. geschlechtsspezifischen Erwartungen oder Kastensystemen nicht beim Gericht vorsprechen können.

Die Notwendigkeit gesetzlicher Anpassungen

Damit Wiedergutmachung in der Schweiz tatsächlich möglich ist, braucht es dort gesetzliche Anpassungen. Eine Wiederaufnahme der Debatte um verbindliche Sorgfaltspflichten für Schweizer Unternehmen ist unausweichlich. Auch die Möglichkeit eines kollektiven Rechtsschutzes ist zentral: Mehrere Geschädigte müssen in der Lage sein, gegen das gleiche Unternehmen eine gemeinsame Klage einzureichen. Der Vorschlag des Bundesrats vom Dezember 2021 zur geplanten Erweiterung der Verbandsklage und zur Einführung eines kollektiven Vergleichs ist daher zu begrüßen. Es würde Verbänden und anderen Organisationen ermöglichen für mehrere Geschädigte auf Unterlassung und Beseitigung zu klagen und Schadenersatz zu verlangen. Die Entscheidung der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates zunächst weitere Fragen prüfen zu lassen, ist vor dem Hintergrund des hohen und dringlichen Anpassungsbedarf jedoch beunruhigend.

Ein Hoffnungsschimmer

Für die 51 Bauernfamilien kommen diese etwaigen Änderungen zu spät. Lediglich eine erneute OECD-Beschwerde nach Abschluss des Gerichtsverfahrens, um die Frage der Wiedergutmachung zu erörtern, ist möglich. Das kann allerdings Jahre dauern.

Der Prozess vor dem Zivilgericht ist vorerst im Gange. Abzuwarten bleibt, welche weiteren Hürden sich den drei Kläger*innen stellen und wie das Gericht damit umgehen wird.